Leseprobe Kapitel 6
Es dauerte nicht lange, bis sie auf den ersten Jungen traf. Genauer gesagt war sie noch nicht einmal richtig aus ihrem Zimmer heraus.
»He! Hallo! Ich bin Demian! Fritz hat gemeint, ich solle dich hier abholen.«
»Ähm ... ja, danke.«
Taya musterte den Jungen vor sich. Struppiges, blondes Haar und rote Wangen. Er musste etwa in ihrem Alter sein, vielleicht auch ein Jahr älter. Wenn überhaupt. Seine langen, dürren Beine steckten in einer blauen Latzhose, die sonst nicht viel von seiner Statur preisgab. Nicht einmal seinen Hintern konnte sie darin erkennen. Bei dem Gedanken daran spürte sie, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Verlegen blickte sie zu Boden. Was, wenn das der Traummann war, von dem Melia gesprochen hatte?
Nein, er gehörte eigentlich nicht zu dem Typ, der ihr gefiel.
»Kommt definitiv nicht in Frage«, sagte sie zu sich selbst und dachte nicht daran, dass Demian es hören konnte.
»Was sagst du?«
Taya lächelte verlegen und schaute ihn an.
»Ach, nichts. Ich musste nur gerade an etwas denken.«
»Na gut. Komm, ich zeige dir den Hof.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her.
Für einen Moment spürte Taya, wie die Röte erneut in ihr Gesicht schoss und in den Wangen pulsierte. Noch nie hatte sie ein Junge an die Hand genommen. Seine Finger fühlten sich warm und kräftig, aber auch irgendwie wie Omas alte Ledercouch an. Bestimmt, weil er so hart arbeitet, dachte sie. Und nun benimm dich nicht wie ein kleines, dummes Gör.
Es war warm, als sie aus dem Haus traten. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel herab, an dem sich weit und breit kein Wölkchen zeigte.
»Hmm ... was zeige ich dir zuerst?«
Nachdenklich legte Demian seinen Zeigefinger auf die Lippen.
»Ich hab´s! Zuerst den Stall! Da wollen immer alle zuerst hin.«
Nur ich nicht, hätte sie beinahe gesagt und verlangsamte ihren Schritt. Nein, eigentlich wollte sie überhaupt nicht dorthin, sondern sich lieber wieder in den nächsten Zug setzen und zurück in die Stadt fahren. Dahin, wo es nicht nach Mist stank und die Jungs auf ihr Aussehen achteten.
»Taya, nun komm schon.«
Er nahm sie wieder bei der Hand und zog sie hinter sich her, quer über den Hof, bis sie das niedrige Gebäude erreicht hatten. Das Tor stand offen, so dass sie ungehindert hineinschlüpfen konnten.
Für einen Moment sah Taya nichts als Schwärze. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch angenehm nach Heu, aber auch ein beißender Gestank machte sich in ihrer Nase breit.
Vom anderen Ende des Stalles konnte sie ein Schnauben und Hufgetrappel vernehmen.
»Um diese Uhrzeit sind die meisten Pferde draußen auf der Weide oder ausreiten. Deswegen ist es so leer hier«, erklärte Demian und ließ sie los.
Fast schon war sie ein wenig enttäuscht, denn Hand in Hand mit ihm hatte sie sich sicher gefühlt.
Jetzt schien sie völlig allein auf sich gestellt zu sein und das mitten auf fremden Terrain. Was, wenn er jetzt hinaus sprintete und das Tor hinter ihr schloss?
Sie würde allein hier drin hocken bleiben müssen, in der Dunkelheit und niemand würde sie vermissen. Fritz vielleicht - aber das doch eher erst gegen Abend. Und bis dahin konnten die Ratten sich an ihr satt fressen.
Das Knistern von Stroh riss sie aus den Gedanken. Ein erstickter Schrei entrann ihrer Kehle und sofort schlug sie sich mit beiden Händen auf den Mund. Ratten. Wusste sie es doch! Demian hatte nicht vor, ihr den Stall zu zeigen, sondern wollte sie, die Göre aus der Stadt, einfach loswerden. Oder zumindest böse erschrecken.
»Du brauchst doch keine Angst zu haben. Hier passiert dir nichts«, sagte er und lachte.
»Was war das?«, erkundigte sie sich und trat wieder neben ihn.
So ein blöder Kerl. Wahrscheinlich würde er genauso reagieren, wenn er das erste Mal eine Straßenbahn sah. Wenn es jemals dazu kam, dann würde sie ihm Schauergeschichten über diese gelben Monstren erzählen, die unbedarfte Kerle vom Land einfach verschluckten.
Demian zögerte einige Sekunden, eh er antwortete: »Ein Pferd. Sein Name ist Staglo. Schneeweiß ist der Hengst. Wunderschön! Aber er hat ein Wesen wie der Teufel! Kein Mensch kann ihn reiten und mit den anderen Pferden kämpft er ständig. Also darf er nur heraus, wenn die anderen drinnen sind.«
»Staglo.«
Taya sagte den Namen wieder und wieder. Etwas Geheimnisvolles ging von diesem aus. Etwas, das sie verzauberte und ihre Angst davonjagte.
»Lass ihn uns einmal anschauen.«
Noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie diese schon fast wieder. Aber nur fast.
Sie war auf das Tier gespannt, das so gefährlich sein sollte, dass niemand es bändigen konnte.
»Es ist uns ausdrücklich verboten, dass wir uns Staglo nähern«, flüsterte Demian und wandte sich wieder dem Ausgang zu.
»Er ist gefährlich. Komm, ich zeige dir die Ponys«, wechselte er das Thema.
»Schade«, murmelte Taya, und verließ hinter ihm die Stallung.
Das Schnauben des Hengstes war noch bis hier draußen zu hören.
* * * * *
Die Ponys standen unbeweglich auf den Koppeln und grasten.
»Sind sie nicht wunderbar? Für uns sind sie zum Reiten leider zu klein, aber lieb sind sie! Man kann gut mit ihnen kuscheln.«
Demian zwinkerte Taya zu.
»Sicher«, antwortete Taya müde.
Die Ponys sah sie nicht wirklich, denn ihre Gedanken waren noch immer bei dem eingesperrten Hengst.
»Jetzt sag nicht, dass du zum Kuscheln zu alt bist«, versuchte er sie zu necken, doch Taya sprang nicht darauf an.
Was war an diesem Staglo nur so besonders, dass er nicht mehr aus ihren Gedanken wich? Noch nie hatte sie sich für Pferde interessiert. Allgemein war sie kein großer Tierfreund. Aber Staglo ... Ein seltsamer, wunderschöner Name. Wie der Hengst wohl aussah? Sie lehnte sich auf die hölzerne Brüstung, die die Koppel abtrennte und starrte in die Ferne.
»Kannst du mir mehr von Staglo erzählen?«, fragte sie Demian nach einer Weile, in der auch er geschwiegen hatte.
Dieser runzelte seine Stirn.
»Staglo? Hmm ... was gibt es da Großartiges zu erzählen? Er geht dir nicht mehr aus dem Kopf, oder?«
Verträumt nickte Taya.
»Nun, soviel ich weiß, stammt er von einem anderen Pferdehof, wo man ihn nicht gut behandelt hat. Schläge, verdorbenes Futter und solche Dinge. Darum lässt er auch niemanden an sich heran. Er hat einfach zu viel Angst und kein Vertrauen zu den Menschen. Verdenken kann man es ihm aber nicht. Fritz lässt ihn immer zum Sonnenuntergang heraus. Dann steht er da, unbeweglich, obwohl es seine einzige Möglichkeit ist, sich mal auszutoben und beobachtet die sinkende Sonne. Sobald sie untergegangen ist, trottet er brav zurück in seinen Stall. Aber wehe, es kommt ihm jemand zu nahe! Dann fliegen schon mal die Hufe!«, erklärte er, heftig gestikulierend.
»Ach, der Arme. Und er hat zu niemandem Vertrauen? Das ist traurig.«
Demian nickte. »Ist es wirklich. Aber nun lass uns von etwas Angenehmeren sprechen. Bist du schon einmal geritten?«
Taya sah auf und ihn an. Angenehmeren? Reiten? Das war doch nicht sein Ernst, oder etwa doch?
Demians blaue Augen leuchteten.
Was sollte sie ihm antworten? Dass sie noch nie auf etwas gesessen hatte, das größer als ein Schaukelpferd war? Oder dass sie in Wirklichkeit eine Profireiterin war, die im Moment nur keine Lust dazu hatte, sich auf den Rücken eines Pferdes zu schwingen?
Letzteres kam sicher nicht in Frage, denn dass das nicht stimmen konnte, würde Demian sofort wissen. Schließlich wusste sie ja mit Mühe und Not, wo vorne und hinten bei einem Pferd war.
Aber blamieren wollte sie sich vor ihm auch nicht. Dieser Junge ...
Ach, Taya! Nun reiß dich zusammen! Nach den zwei Wochen wirst du ihn nie wiedersehen. Soll er doch von dir denken, was er will.
»Nein - bisher noch nicht«, antwortete sie letztendlich. »Und ich weiß auch nicht ...«
Demian fiel ihr ins Wort.
»Dann komm mal mit. Schauen wir mal, ob wir ein passendes Anfängerpferd für dich finden. Bisher habe ich noch jeder Städterin das Reiten beibringen können.«
›Großmaul‹, dachte Taya und dann: ›Wenn ich schon unbedingt reiten muss, dann wenigstens auf Staglo.‹
Es war dumm von ihr, solche Gedanken zu haben. Wenn noch nicht einmal ein erfahrener Reiter Staglo bezwingen konnte, wie sollte sie es dann?
Sie folgte Demian am Zaun entlang, bis sie vor einer Wiese standen, auf der einige rotbraune Pferde mit hellen Mähnen grasten.
»Das sind die Haflinger«, erklärte er. »Ganz, ganz liebe Tiere und vollkommen anfängertauglich.«
Taya mochte es nicht, ständig als Anfängerin dargestellt zu werden. Konnte dieser dämliche Demian nicht aufhören, auf ihr herumzuhacken? Fast schon hatte sie ihn sympathisch gefunden. Doch nun sammelte er immer mehr Negativpunkte und bald ... Ja, was dann? Ihn würde es nicht scheren, wenn sie ihn nicht mochte. Sie selbst dagegen sehr.
Seufzend schaute Taya zu, wie er zwei Finger in den Mund nahm und pfiff. Sofort stellten sich die Ohren der Grasenden auf.
»Leonie! Komm mal rüber!«, rief er.