Leseprobe Kapitel 1
»Ich hasse Pferde«, murmelte Taya und ließ den Flyer enttäuscht fallen. Schon spürte sie, wie Tränen in ihre Augen stiegen, doch sie wollte nicht weinen. Heftig schluckte sie diese herunter und versuchte, ihren Vater anzulächeln. Sicher hatte er es nur gut gemeint. Aber zu ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie sich doch einen Urlaub am Meer gewünscht. In der Sonne liegen und schwimmen gehen. Vielleicht einen netten Jungen kennenlernen ... Jedenfalls etwas völlig anderes, als eine Reise auf einen Pferdehof, wo es stank und es nur so von Bauerntrampeln wimmelte.
»Ach, Kind.« Ihr Vater streichelte Taya sanft über die blonden Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.
Wenigstens eine kleine Erinnerung an sie, dachte Taya und spürte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. Nein, an den Unfall ihrer Mutter wollte sie jetzt nicht denken. Weder heute noch ein anderes Mal. Doch sie wusste, dass die Erinnerung zurückkehren würde. Ob sie wollte, oder nicht.
Bevor sie weiter gegen ihre Gedanken ankämpfen konnte, riss ihr Vater sie aus diesen heraus.
»Du hast noch nie ein Pferd aus der Nähe gesehen. Wie willst du dann beurteilen können, ob du Pferde magst, oder nicht?«
»Die stinken!«, sagte Taya laut, aber sie wagte es nicht, ihrem Vater in die Augen zu schauen. Wahrscheinlich hatte er es wirklich nur gut gemeint, aber was verstand er schon von Mädchen?
»Zumindest hat das der Jörg erzählt«, setzte sie fort und hatte sogleich das Gefühl, das ihm diese Worte weh taten. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte einmal ausgesprochen, was sie dachte und konnte es nicht mehr zurücknehmen.
Versöhnlich setzte sie fort: »Er war in den letzten Ferien auf einem Bauernhof. Aber vielleicht hat er auch übertrieben.«
Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.
»Der Jörg ist doch dumm. Wahrscheinlich saß er noch nie auf einem Pferd«, erklärte ihr Vater. Sein Gesicht war grau geworden.
Sie hatte ihn verletzt. Doch wie sie ihn kannte, würde er es niemals zugeben. Wie konnte sie sich nur aus dieser Angelegenheit noch herauswinden? Taya hob den Flyer auf und drückte ihn an die Brust. Vielleicht war es ja doch nicht so schlimm auf einem Pferdehof, wie sie dachte. Zumindest konnte man es ja einmal probieren. Und im Notfall gab es auch noch Telefone, sodass ihr Vater sie jederzeit abholen konnte.
»Als ich so alt war wie du«, erzählte er weiter, ohne sie anzusehen, »da hatte ich ein Pflegepferd und wir sind jeden Tag zusammen ausgeritten. Zum Schluss war es mein bester Freund.«
»Wo ist es jetzt?«, erkundigte sich Taya und sah, wie sein rechter Mundwinkel zu zucken begann. Offenbar war sie auf dem richtigen Weg, ihn wieder aufzumuntern.
»Mein Vater, also dein Opa, verlor seine Arbeit und wir mussten wegziehen. Ich war damals sehr traurig.«
Und lachend fügte er hinzu: »Aber glaube mir eines: Gestunken hat mein Pferd nie! Ich habe es immer schön gestriegelt. Ich war damals sehr stolz darauf, wie sein Fell geglänzt hat. Doch, ich muss sagen, mein Max war das schönste Pferd weit und breit. Du glaubst gar nicht, wie mir die Mädchen hinterher geschaut haben, wenn wir angeritten kamen.« Er zwinkerte und nahm Taya in den Arm.
»Na ja. Es sind ja nur zwei Wochen«, sagte sie schließlich und freute sich, dass er nicht länger traurig war. »Vielleicht hast du ja recht, Papa. Aber wenn nicht, dann fahren wir nächstes Jahr ans Meer. Versprochen?«
»Versprochen! Aber ich sage dir schon jetzt, dass du wieder dahin willst.« Er entließ sie aus seiner Umarmung. »So, und nun mach, dass du ins Bett kommst. Die Ferien beginnen erst übermorgen.«
»Och nö. Noch einmal in die Schule! Muss das wirklich sein?«
Er lachte und boxte ihr liebevoll gegen den Oberarm.
»Keine Widerrede, junge Dame! Schule muss sein! Also ab jetzt!«
* * * * *
Am nächsten Morgen kam Taya nur sehr schwer aus dem Bett. Die Augen waren noch dick und rot, als sie sich auf den Weg zur Schule machte.
»He! Taya! Na, wie war gestern deine Geburtstagsfeier? So, wie du aussiehst, habt ihr noch lange gefeiert.«
Melia war ihre beste Freundin, schon so lange, wie sie sich erinnern konnte. Taya war ein wenig sauer auf sie gewesen, weil Melia nicht zu ihrer Party hatte kommen können. Aber ihre Oma hatte am selben Tag wie Taya Geburtstag und dazu noch den Siebzigsten. Für Taya ein unvorstellbares Alter. Deswegen konnte sie ihr gerade noch verzeihen, dass die Freundin nicht da gewesen war.
»Ging so«, brummte sie verschlafen.
»Und? Nun lass dich doch nicht löchern! Hast du die Reise bekommen, die du dir so sehr gewünscht hast?«
Mit großen Augen starrte Melia sie an.
Dieses Thema hatten sie beide so lange diskutiert, sich ausgemalt, wohin es gehen könnte und von fernen Ländern geträumt. Doch jetzt war diese Fantasie so weit weg, wie der Mond. Wenn nicht sogar noch weiter. »So ähnlich«, murmelte sie deswegen nur und betrachtete ihre Fußspitzen. Am liebsten wollte sie schweigen, jedes Wort darüber herunterschlucken und dann vergessen. Aber Melia würde nicht lockerlassen. Taya spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg und mit ihr das Blut in ihren Adern zu kochen anfing. Das Kribbeln breitete sich schneller aus, als sie es für möglich gehalten hatte, und sie stampfte auf, um ihre Wut nicht an der Freundin auszulassen.
»Was ist denn los mit dir?«
Melia rannte an ihr vorbei und stellte sich ihr in den Weg.
»Jetzt will ich es aber genau wissen!«
Taya biss sich auf die Lippen und brachte mühsam hervor: »Aus der Reise zum Meer wird nichts. Leider.«
Sie seufzte.
»Dafür fahre ich auf einen Reiterhof. Ganz allein. Papa muss arbeiten.«
»Einen Reiterhof?« Melia verzog das Gesicht. »Dort stinkt es doch so!«
Langsam ebbte das Gefühl der überschäumenden Wut in Taya ab. Hatte sie dieselben Worte nicht auch vor nicht einmal zwölf Stunden gesagt?
Doch diese Blöße wollte sie sich nicht geben und sagte, hoch erhobenen Hauptes: »So schlimm wird es schon nicht.«
»Na, wenn du meinst.« Sie blickte wieder nach vorn, gerade rechtzeitig, um nicht gegen einen Laternenpfahl zu laufen.
Nach einer Weile, die Taya fast wie eine Ewigkeit vorkam, blieb Melia erneut stehen.
»Vielleicht findest du dort ja auch einen Traumprinzen?«, überlegte sie laut und schien nicht einmal zu bemerken, dass Taya einfach an ihr vorbeiging.
»Ich habe mir sagen lassen, dass die Jungs vom Lande sehr muskulös sind. Die können so richtig zupacken, weißt du? Die sind bestimmt hundertmal - nein, tausendmal! - besser als die Streber aus der Parallelklasse. Und die Vollpfosten aus unserer Klasse, die kannst du ja gleich mal vollkommen ver... Eh!«
Melia schrie ihr hinterher, doch sie kümmerte sich nicht darum. Auf das dumme Gerede ihrer Freundin hatte Taya jetzt erst recht keine Lust mehr. Wie sollte sie nur die kommenden acht Stunden mit ihr überstehen? Schließlich gingen sie nicht nur zusammen in die Schule, sondern saßen auch noch nebeneinander.
»Ach, menno!« Sie rannte ihr nach und verlangsamte erst ihren Schritt, als sie Taya überholt hatte. »Hab dich doch nicht immer so. Ich hab es ja nur gut gemeint! Außerdem finde ich es so cool, dass du alleine fahren darfst! Meine Eltern würden mir das nie erlauben.«
Du hast ja auch Mama und Papa. Einer von ihnen kann sich immer frei nehmen ... Sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Natürlich hätte sie sich gewünscht, einmal mit ihren Eltern in den Urlaub zu fahren. Aber ihre Mutter war vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und ihr Vater arbeitete seither mehr, um sie beide alleine zu ernähren. Taya spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen und wandte ihr Gesicht rasch der Hecke zu, die hier den Weg säumte. Was war nur mit ihr in der letzten Zeit los? Diese verfluchten Gefühlsausbrüche brachten sie noch um den Verstand.
»Taya ich ... Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«
Sie spürte die Hand der Freundin auf ihrer Schulter, schüttelte sie ab und rannte los. »Beeil dich! Wir kommen zu spät zum Unterricht«, rief sie ihr zu.
Doch das Läuten der Schulglocke war schon zu hören.
* * * * *
»Meine Damen! Muss ich euch daran erinnern, dass erst morgen die Ferien beginnen?«, erkundigte sich Frau Stolze und schaute über den Rand ihrer Brille die Freundinnen an. »Macht euch auf eure Plätze und dann bitte ich um Ruhe!«
»Es tut uns leid«, antworteten sie im Chor und eilten mit gesenkten Häuptern auf ihre Plätze.
Zum Glück verlief der Rest des Tages ohne weitere Zwischenfälle.